Verkehrsrecht Urteile 2018 |
15.11.2018
Für ein nicht offiziell stillgelegtes Fahrzeug, das fahrbereit ist, muss auch dann eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bestehen, wenn sein Eigentümer, der nicht mehr damit fahren will, es auf einem Privatgrundstück abgestellt hat. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die nationale Entschädigungsstelle in Fällen, in denen die Person, die verpflichtet war, für ein an einem Unfall beteiligtes Fahrzeug eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abzuschließen, ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen ist, auch dann Rückgriff auf sie nehmen kann, wenn sie zivilrechtlich nicht für den Unfall verantwortlich war.
Die Eigentümerin eines in Portugal zugelassenen Kraftfahrzeugs hatte wegen gesundheitlicher Probleme die Nutzung dieses Fahrzeugs eingestellt und es im Hof ihres Hauses geparkt, ohne jedoch Schritte zu seiner offiziellen Stilllegung zu unternehmen. Im November 2006 bemächtigte sich der Sohn der Eigentümerin ohne deren Erlaubnis und Wissen des Fahrzeugs.
Das Fahrzeug kam von der Straße ab, was zum Tod des Sohnes und zweier weiterer Fahrzeuginsassen führte. Die Eigentümerin hatte zum Zeitpunkt des Unfalls keine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung für das Fahrzeug abgeschlossen. Der Garantiefonds Portugal leistete den Rechtsnachfolgern der Insassen Ersatz für die durch den Unfall entstandenen Schäden. Anschließend nahm er die Eigentümerin gerichtlich in Anspruch, da sie ihrer Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung für ihr Kraftfahrzeug nicht nachgekommen sei, und verlangte von ihr die Erstattung des Betrags von 437.345,85 Euro, den er an die Rechtsnachfolger der Insassen gezahlt hatte. Die Eigentümerin machte geltend, sie sei für den Schadensfall nicht verantwortlich und, da sie ihr Fahrzeug im Hof ihres Hauses abgestellt habe und es nicht habe nutzen wollen, nicht zum Abschluss eines Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags verpflichtet gewesen.
Die Erste Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bestimmt, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten durch eine Versicherung gedeckt sein muss. Die Zweite Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung sieht die Schaffung einer Stelle vor, die u. a. für die durch ein nicht versichertes Fahrzeug verursachten Sach- oder Personenschäden Ersatz zu leisten hat. Die Mitgliedstaaten können Bestimmungen erlassen, durch die der Rückgriff dieser Stelle auf den für den Unfall Verantwortlichen sowie auf andere zur Schadensregulierung verpflichtete Versicherer oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit geregelt wird.
In diesem Kontext hat der vom Garantiefonds Portugal angerufene Oberster Gerichtshof Portugal beschlossen, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen vorzulegen. Er möchte zunächst wissen, ob eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abgeschlossen werden muss, wenn das betreffende Fahrzeug nur deshalb, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will, auf einem Privatgrundstück abgestellt wurde.
Sodann möchte es wissen, ob die Zweite Richtlinie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass die Entschädigungsstelle gegen die Person, die eine Haftpflichtversicherung für das Fahrzeug, das die von dieser Stelle übernommenen Schäden verursacht hat, hätte abschließen müssen, dies aber unterlassen hat, auch dann ein Rückgriffsrecht hat, wenn diese Person zivilrechtlich nicht für den Unfall verantwortlich ist, bei dem die Schäden entstanden sind.
Mit seinem Urteil vom 4. September 2018stellt der EuGH fest, dass nach der Ersten Richtlinie eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abgeschlossen werden muss, wenn das betreffende Fahrzeug weiterhin in einem Mitgliedstaat zugelassen und fahrbereit ist und nur deshalb auf einem Privatgrundstück abgestellt wurde, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will. Der EuGH führt zunächst aus, dass ein Fahrzeug, das nicht ordnungsgemäß stillgelegt wurde und fahrbereit ist, unter den Begriff ''Fahrzeug'' im Sinne der Ersten Richtlinie fällt und nicht allein deshalb, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will und es auf einem Privatgrundstück abgestellt hat, nicht mehr der in der Richtlinie aufgestellten Versicherungspflicht unterliegt.
Das Fahrzeug hatte seinen gewöhnlichen Standort im Gebiet eines Mitgliedstaats (Portugal) und war dort nach wie vor zugelassen. Es war auch fahrbereit. Daraus schließt der EuGH, dass das Fahrzeug der in der Ersten Richtlinie aufgestellten Versicherungspflicht unterlag. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Eigentümerin das Fahrzeug auf einem Privatgrundstück, nämlich im Hof ihres Hauses, abgestellt hatte, bevor ihr Sohn Besitz von ihm ergriff, und dass sie es nicht mehr nutzen wollte.
Sodann stellt der EuGH fest, dass die Zweite Richtlinie einer gesetzlichen Regelung nicht entgegensteht, die vorsieht, dass die Entschädigungsstelle ein Rückgriffsrecht nicht nur gegen den oder die für den Unfall Verantwortlichen hat, sondern auch gegen die Person, die eine Haftpflichtversicherung für das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, hätte abschließen müssen, dies aber unterlassen hat; dies gilt auch dann, wenn sie zivilrechtlich nicht für den Unfall verantwortlich ist.
Der Unionsgesetzgeber wollte zwar das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lassen, den Rückgriff der Entschädigungsstelle u. a. auf ''den oder die für den Unfall Verantwortlichen'' zu regeln, hat jedoch die verschiedenen Aspekte des Rückgriffs dieser Stelle nicht harmonisiert, so dass diese Aspekte dem innerstaatlichen Recht jedes Mitgliedstaats unterliegen. Folglich können innerstaatliche Rechtsvorschriften vorsehen, dass die Entschädigungsstelle, wenn der Eigentümer des am Unfall beteiligten Fahrzeugs seiner Pflicht, es zu versichern, nicht genügt hat, nicht nur den oder die für den Unfall Verantwortlichen in Anspruch nehmen kann, sondern auch den Eigentümer des Fahrzeugs, unabhängig von dessen zivilrechtlicher Verantwortlichkeit für den Unfall.
(Quelle: PM des EuGH)