Nach § 168 Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX) bedarf die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Das Integrationsamt - der... Erläuterung einblenden
Nach § 168 Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX) bedarf die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Das Integrationsamt - der offizielle Name lautet "Amt für die Sicherung der Integration schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben (Integrationsamt)" - ist eine Behörde, die z. B. in Hessen beim Landeswohlfahrtsverband angesiedelt ist. Nach § 151 Abs. 1 SGB IX gehören zu dem geschützten Personenkreis
- Schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) sowie
- die diesen gleichgestellten behinderten Menschen (§ 2 Abs. 3 SGB IX).
Dieser besondere Kündigungsschutz - "
besonders" weil neben diesem Kündigungsschutz meist zusätzlich auch der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zu beachten ist - gilt dann nicht, wenn eine der Ausnahmen des § 173 SGB IX gilt. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX gilt insbesondere dann kein besonderer Kündigungsschutz, wenn das Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ununterbrochen noch nicht länger als sechs Monate bestanden hat.
Kann ein Arbeitnehmer wegen einer Behinderung nicht mehr auf seinem bisherigen Arbeitsplatz beschäftigt werden, kann er die Verwendung auf einer anderen geeigneten Stelle verlangen, wenn der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet wird. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 10. Februar 2022 entschieden (Az.: C-485/20). Das gelte auch dann, wenn sich der Arbeitnehmer in der Probezeit befinde.
Der besondere Kündigungsschutz besteht auch dann, wenn der Arbeitgeber von der tatsächlich bestehenden Schwerbehinderung keine Kenntnis hatte. In diesem Fall muss der betroffene Arbeitnehmer den Arbeitgeber aber innerhalb einer angemessenen Frist von seiner Schwerbehinderung oder Gleichstellung unterrichten. Folge: Die Kündigung ist wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamtes unwirksam. Ist der Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Kündigungszeitpunktes noch kein anerkannter Schwerbehinderter oder Gleichgestellter hat er keinen besonderen Kündigungsschutz.
Ausnahme: Hat er bereits vor der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung beim Versorgungsamt (§ 152 Abs. 1 SGB IX) gestellt (oder zumindest die Absicht der Antragstellung dem Arbeitgeber vor der Kündigung mitgeteilt) und teilt er dies dem Arbeitgeber innerhalb einer angemessenen Frist mit, bedarf die Kündigung gleichfalls der Zustimmung des Integrationsamtes ? jedenfalls dann, wenn der Gekündigte später rückwirkend als Schwerbehinderter oder Gleichgestellter anerkannt wird.
Der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung muss schriftlich oder elektronisch bei dem für den Sitz des Betriebes oder der Dienststelle zuständigen Integrationsamt gestellt werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Oft bieten die Integrationsämter bereits eigene Formulare an, die zur Vereinfachung des Verfahrens verwendet werden sollten.
Der Antrag auf Zustimmung sollte nachvollziehbar begründet werden. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass das Integrationsamt die Belange des Arbeitnehmers als Schwerbehinderter zu berücksichtigen hat. Es prüft also, ob eine Benachteiligung wegen der Behinderteneigenschaft im konkreten Fall vorliegt. Nach § 174 Abs. 4 SGB IX soll das Integrationsamt die Zustimmung erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht.
Hilfreich kann es sein, wenn der Arbeitgeber zuvor schon ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt hat. Hiernach gilt, dass der Arbeitgeber bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig u. a. die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt einschalten soll. Mit ihnen soll er alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.
Nach § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX ist die Kündigung, die ein Arbeitgeber ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ausspricht, unwirksam. Zu dieser Beteiligung gehört, dass die Schwerbehindertenvertretung "
unverzüglich und umfassend" zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören ist. Zudem hat der Arbeitgeber der Schwerbehindertenvertretung die getroffene Entscheidung "
unverzüglich mitzuteilen" (§ 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Der erforderliche Inhalt der Anhörung und die Dauer der Frist für eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung richten sich nach den für die Anhörung des Betriebsrats geltenden Grundsätzen. Die Kündigung ist nicht allein deshalb unwirksam, weil der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung nicht unverzüglich über seine Kündigungsabsicht unterrichtet oder ihr das Festhalten an seinem Kündigungsentschluss nicht unverzüglich mitgeteilt hat.
Weiterhin ist bei einer beabsichtigten krankheitsbedingten Kündigung die vorherige Durchführung des sog. betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX dringend zu empfehlen: Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit den zuständigen Interessenvertretungen (z. B. Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung) mit Zustimmung und Beteiligung des betroffenen Arbeitnehmers die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
Nach § 174 Abs. 2 Satz 1 SGB IX muss die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung innerhalb von zwei Wochen beantragt werden. die Frist beginnt nach Satz 2 dieser Vorschrift mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt. Innerhalb weiterer zwei Wochen muss das Integrationsamt seine Entscheidung treffen, wobei seine Zustimmung fingiert wird, wenn keine Entscheidung getroffen wird (§ 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX).
Der Arbeitgeber kann wegen des vorgeschalteten Verfahrens vor dem Integrationsamt regelmäßig die ansonsten einschlägige Zwei-Wochen-Frist des § 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht einhalten. Nach § 173 Abs. 5 SGB IX kann die Kündigung daher auch nach Ablauf der § 626 BGB-Frist erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung bzw. nach Eintritt der Zustimmungsfiktion erklärt wird.
Es wird empfohlen, die ggf. notwendige Anhörung des Betriebsrates zu einer außerordentlichen Kündigung gleichzeitig mit der Einreichung des Zustimmungsantrags einzuleiten und den Betriebsrat vom Zustimmungsantrag zu informieren. Weiterhin empfehlenswert ist es, im Falle einer beabsichtigen außerordentlichen Kündigung zugleich vorsorglich auch das Verfahren für eine ordentliche Kündigung zu beschreiten, denn es kann der Fall eintreten, dass die außerordentliche Kündigung zwar unwirksam, eine ordentliche Kündigung dagegen wirksam ist.
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